Hildesheim, 01. April 2022
„Aktiv werden, wirksam werden – das hilft“
Extinction Rebellion erhält die Zukunfts-Hilde für April des Netzwerks „Öko, fair & mehr“: Provozieren, damit Menschen zuhören
Hildesheim. Die Menschheit hat keine Zeit zu verlieren: Die weltweite Klimaveränderung hat längst begonnen. Nur durch eine entschlossene Änderung der Lebensgewohnheiten kann eine Katastrophe noch gebremst werden, die Milliarden Menschen die Lebensgrundlagen entziehen wird. Doch diese Wahrheit, von Wissenschaftlern seit Jahrzehnten bestätigt, lässt immer noch viele scheinbar unberührt. Das Thema Klimawandel wird zur Seite geschoben, von aktuellen Problemen verdrängt oder sogar verleugnet. Dabei wurden der UNO zufolge allein im Jahr 2020 schon mehr als 30 Millionen Menschen von extremen Wetterereignissen aus ihrer Heimat vertrieben.
Die Bewegung Extinction Rebellion (XR) wurde 2018 in England von Klimaaktivisten gegründet, die mit aller Deutlichkeit auf die Bedrohung aufmerksam machen wollen. Seit 2019 gibt es auch eine Ortsgruppe in Hildesheim. Das Netzwerk „Öko, fair & mehr“ hat die Klimaaktivisten und Klimaaktivistinnen jetzt mit der Zukunfts-Hilde des Monats April ausgezeichnet. „Öko, fair & mehr“, ein Bündnis von annähernd 50 Organisationen, Initiativen, Gruppen und Kirchen in der Region Hildesheim, zollt mit der monatlichen Vergabe der Zukunfts-Hilde jeweils einem besonderen Einsatz für Umwelt, Klima, globale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit Anerkennung und rückt die Preisträger in den Blick der Öffentlichkeit.
Der Zeitpunkt für die Auszeichnung sei mit Bedacht gewählt, erklärt Michaela Grön, Leiterin des Projekts „Lernen eine Welt zu sein“ im Kirchenkreis Hildesheim-Sarstedt und Mitglied der Steuerungsgruppe von „Öko, fair & mehr“: „Durch die erschreckenden Nachrichten über den Krieg in der Ukraine hat der aktuelle Bericht des Weltklimarates (IPCC) nicht die öffentliche Aufmerksamkeit erhalten, die ihm zukommt“, sagt Michaela Grön. Wieder einmal sei das drängende Thema Klimaschutz in den Hintergrund geschoben worden.
„Dabei müssen die aktuellen Krisen in den Bereichen Frieden, Gesundheit, Umwelt und Klima zusammengedacht werden, um kohärente Lösungen für eine sichere Zukunft zu finden“, betont Grön. Umso wichtiger seien die Aktionen der XR-Gruppe. „Wir sind froh und dankbar über die Anerkennung für unseren Einsatz“, sagt Ellen Gerdes von Extinction Rebellion zu der Auszeichnung. „Wir opfern unsere gesamte Freizeit dafür und werden doch oft als Spinner abgetan.“
Extinction Rebellion ist offen organisiert, es gibt keine Mitgliedschaften oder Hierarchien, alle können sich beteiligen. In Hildesheim stünden etwa 30 Aktivistinnen und Aktivisten der Gruppe nahe, meint Ellen Gerdes. Die Vorbereitung von Aktionen übernehme aber ein Kern von etwa zehn Personen. Seit der Gründung hat die Ortsgruppe sich bei einer Aktion im Hohnsen das Wasser bis zum Hals stehen lassen, hat mit der Plakatierung von Bäumen, Flash-Mob- und Ein-Personen-Demonstrationen oder kurzzeitigen Straßensperrungen Aufmerksamkeit erregt. Letztere sollen weiterhin zweimal im Monat samstags stattfinden. Außerdem bietet Extinction Rebellion kostenlose Vorträge beispielsweise für Schulen an, um über die Klimakrise und Gegen-Maßnahmen zu informieren.
XR lehnt jede Form von Gewalt – auch verbale – entschieden ab. Aber auch mal Ärger zu verursachen und kurzzeitige Festnahmen zu riskieren gehört zum Programm. „Extinction Rebellion provoziert eben auch“, sagte Detlef Ramisch von der Hildesheimer Greenpeace-Gruppe in seiner Laudatio bei der Übergabe der Zukunfts-Hilde, „die Menschen müssen ja zuhören.“
Darum zeigt Ellen Gerdes auch Verständnis für die Aktivistinnen und Aktivisten der Gruppe „Aufstand der letzten Generation“. Sie hatten in Berlin die Autobahn blockiert, indem sie sich mit den Händen auf die Fahrbahn klebten – und riskierten den Zorn der Autofahrenden ebenso wie die eigene Gesundheit. Aus Verzweiflung, sagt Gerdes. Denn Fridays for Future und andere Klimaschutzgruppen hätten zwar Tausende friedliche Demonstrierende auf die Straße gebracht, zu entschiedenem politischem Handeln habe das aber nicht geführt. Offenbar seien rigorose Methoden nötig, um Aufmerksamkeit dafür zu wecken, dass die kommenden zehn Jahre entscheidend seien.
Extinction Rebellion fordert Politik und Medien auf, die Gefahren des Klimawandels ungeschönt zu benennen und alles dafür zu tun, das 1,5-Grad-Celsius-Limit zu erreichen, also die Erderhitzung zu begrenzen. Laut Bericht des Weltklimarates ist jedoch seit dem Pariser Klimaabkommen 2015 so viel wertvolle Zeit ungenutzt verstrichen, dass dieses Ziel kaum noch zu erreichen ist.
Eine dritte Forderung von XR ist die Bildung einer Bürger:innen-Versammlung. Ausgeloste Personen, die einen Querschnitt der Bevölkerung darstellen, sollen ein halbes Jahr lang intensiv mit Informationen versorgt werden und dann einen Maßnahmenkatalog als Empfehlung für eine nachhaltige sowie sozial gerechte Umwelt- und Klimapolitik erarbeiten. Dies könnte eine Argumentationshilfe für unbequeme Maßnahmen sein, erklären die XR-Vertreterinnen. Denn dass Politiker und Politikerinnen wiedergewählt werden wollen, stehe konsequenten Entscheidungen im Weg.
Gerade für die Jugend sei die drohende Klimakatastrophe eine große Belastung, die sogar zu Depressionen führe, sagt Josephine Konopka, Extinction-Rebellion-Aktivistin und Schulmitarbeiterin: „Das haut die junge Generation um. Aber aktiv zu sein, selbst wirksam zu werden, mit Anderen zu sprechen, das hilft.“ Wiebke Barth